Heute möchte ich euch auf eine Reise mitnehmen, die uns tief in die Weisheit unseres Nervensystems führt. Eine Reise, die uns verstehen lässt, wie unser Körper auf Traumata reagiert und wie wir durch dieses Verständnis Heilung finden können.
Die Polyvagal-Theorie bietet uns einen neuen Blick auf unsere innere Welt und öffnet Türen zu einer tiefgreifenden Transformation.
Allein die Polyvagal-Theorie hilft uns, Symptome und Reaktionen zu verstehen, die uns ein Leben lang mysteriös und unbeeinflussbar erscheinen.
Vielleicht kannst du dann Mitgefühl für dich selbst finden und, wie ich damals, endlich verstehen, dass mit dir alles in Ordnung ist.
Traumaheilung ist ein Prozess der Veränderung, eine Persönlichkeitsentwicklung. Um eine Veränderung vorzubringen, brachen wir Wissen. Ich lade dich ein, neugierig zu sein, sich auf Neues einzulassen, zu lernen, um in deiner inneren Welt eine Entlastung zu erfahren.
Was ist die Polyvagal-Theorie?
Die Polyvagal-Theorie wurde von Dr. Stephen Porges entwickelt und liefert uns ein faszinierendes Modell, wie unser autonomes Nervensystem auf Stress und soziale Interaktionen reagiert. Im Kern beschreibt sie, dass unser Nervensystem nicht nur zwei Zustände kennt – Kampf/Flucht und Ruhe – sondern dass es einen dritten, komplexeren Zustand gibt, der unser soziales Engagement steuert.
Eine zentrale Rolle spielt dabei unser Vagusnerv, der längste Nerv des autonomen (d.h. nicht bewusst steuerbaren) Nervensystems. Vielleicht hast du schon einmal von diesem Nerv gehört oder gelesen. Er wird als „der Nerv“ gepriesen, der uns heilt. Da ist viel Wahres dran, aber man braucht Hintergrundwissen, um ihn zu.
Vagusnerv wird in der Theorie in zwei Äste unterteilt:
- der ventrale Vagus-Ast: Er fördert soziale Verbundenheit und Kommunikation. Wenn er aktiv ist, fühlen wir uns sicher, mit anderen und mit uns selbst verbunden und können positive soziale Interaktionen eingehen. Wenn der ventrale Vagus in Stresssituationen aktiviert wird, ist er an der sogenannten Unterwerfungsreaktion beteiligt (auch bekannt als „people pleaser“ oder „fawn response“).
Es ist genau dieser Zustand, in dem sich unser ventraler Vagus sicher fühlt, den wir anstreben:
– Sich glücklich fühlen.
– sicher im Hier und Jetzt zu leben
– mit sich selbst (sich selbst wahrnehmen) und anderen verbunden sein
– sich selbst und anderen vertrauen zu können
– die Welt als einen sicheren, schönen Ort zu erleben, mit vielen Möglichkeiten, uns mit Freude weiterzuentwickeln.
– Es ist ein Zustand, in dem wir uns konzentrieren, lesen, uns kreativ ausdrücken und leicht lernen können.

In Sicherheit sein. Ein Gefühl, das traumatisierte Menschen nicht kennen. Wir haben viele Überlebensstrategien konstruiert, nur um nicht hilflos ausgeliefert zu sein, denn sicher fühlen wir uns nie. Wir sind ständig auf der Flucht oder im Kampf. Und wenn die Energie nicht mehr vorhanden ist, stürzen wir über den dorsalen Vagus in ein tiefes Loch der Depression, um uns nicht mehr zu fühlen und uns nicht mehr bewegen zu müssen.
Deshalb ist es wichtig, den Zustand des ventralen Vagus am eigenen Leib zu erfahren, zu verinnerlichen und sich an diesen Zustand zu erinnern, wenn einem auf der Flucht die Beine kurz werden oder bevor man in ein Loch fällt.
Es ist ein Zustand, den man in Verbundenheit in einem sicheren Raum, mit einer sicheren Person erlebt und zulässt (was sich für uns Traumaüberlebende im ersten Moment nicht sicher anfühlt, weil wir es nicht kennen). Dein autonomes Nervensystem lernt, wie sich Sicherheit in Verbundenheit mit einer anderen Person anfühlt, dass es sicher ist und dass deine Reaktionen in Ordnung sind. Das ist der erste Schritt aus Isolation, Einsamkeit und Angst.
Beispiel für ventral-vagale Erfahrungen:
- Die Mutter, die ihr Baby liebevoll stillt
- Zwei Freundinnen bei einem herzlichen Gespräch im Café
- Vater und Sohn, die Fahrrad fahren lernen und sich über ihre Fortschritte freuen
- Bruder, der seiner Schwester bei den Hausaufgaben hilft
- Ehepaar, das im Wohnzimmer gemütlich zum Lieblingslied tanzt
- Schüler im Klassenzimmer, die neugierig der wohlwollenden und humorvollen Lehrerin zuhören.
2. Der dorsalen Vagus-Ast: Wenn wir uns in Sicherheit befinden, ermöglicht er uns tief zu entspannen und zu regenerieren. Wir erleben ein Gefühl von Geborgenheit und Zugehörigkeit zu dieser Welt, die uns sicher erscheint.
Die alltägliche Funktion des dorsalen Vagus ist die Regulierung des Verdauungssystems. Bildlich gesprochen ermöglicht er uns, unsere Nahrung zu verdauen, aber auch die Ereignisse des Alltags in der Phase der Tiefenentspannung zu „verdauen“ und in unser Nervensystem zu integrieren. Alles, was wir erleben und nicht integrieren, sondern abspalten und verdrängen, belastet uns und unser ganzes Selbst.
Wenn der dorsale Vagus in Stresssituationen aktiviert wird, ist er dafür verantwortlich, dass wir uns zurückziehen, uns nicht verbunden fühlen oder emotional taub werden. Bei extremer Bedrohung, wenn Kampf/Flucht/Unterwerfung nicht zur Wiederherstellung von Sicherheit führt, sorgt dieser Ast für Bewegungslosigkeit und Erstarrung. Der dorsale Vagus entfaltet den letzten Versuch, uns zu retten, mit dem sogenannten dorsalen Shutdown, der bis zur Bewusstlosigkeit führen kann.
Beispiel für ventral-dorsale Erfahrungen, wenn wir uns geborgen fühlen:
- Einschlafen in den Armen eines vertrauten Menschen
- An einem heissen Sommertag im Schatten dösend den Meerblick geniessen
- Gemütlich in der Hängematte im Garten schaukeln und den vorbeiziehenden Wolken
- am blauen Himmel zuschauen.
- unter Hypnose eine Fantasiereise erleben

Zwischen diesen Zuständen navigiert unser Nervensystem ständig, je nachdem, wie sicher oder bedroht wir uns fühlen.
Die Verbindung zwischen Trauma und dem Nervensystem
Wenn wir traumatische Erfahrungen machen, kann unser Nervensystem in einen Zustand ständiger Alarmbereitschaft geraten. Die Polyvagal-Theorie hilft uns zu verstehen, dass ein Trauma nicht nur psychologisch, sondern auch physiologisch verankert ist. Unser Körper erinnert sich an die Bedrohung und kann in automatische Schutzreaktionen feststecken. So wie Lisa in der folgenden Geschichte oder wie ich damals.
Diese Erkenntnis ist befreiend, denn sie nimmt uns das Gefühl, „nicht normal zu sein“ und die Schuld, „falsch“ reagiert zu haben. Stattdessen erkennen wir, dass unser Körper versucht, uns zu schützen, auch wenn diese Schutzmechanismen uns im Alltag behindern können.
Die transformative Kraft der Polyvagal-Theorie in der Heilung

Ein Beispiel:
Lisa ist 25 Jahre alt und hatte schon immer Angst, von der Verkäuferin angesprochen zu werden, wenn sie in ein Bekleidungsgeschäft geht. Auch die vielen Menschen auf der Strasse machen sie innerlich unruhig, so dass sie nach kurzer Zeit so müde und erschöpft ist, dass sie den Rest des Tages auf dem Sofa vor dem Netflix verbringt. Das geht so weit, dass Lisa nicht mehr in den Laden geht, sondern alles, was sie braucht, online bestellt. Lisa verlässt die Wohnung nur noch, wenn sie zur Arbeit muss. Dann fährt sie auch bei Regen mit dem Fahrrad, um möglichst wenige Menschen zu treffen, mit denen sie in Kontakt kommen müsste. Lisa isoliert sich immer mehr, hat kaum noch Freundinnen, die Einsamkeit ist ihre treue Begleiterin.
Lisa befindet sich fast ständig in einem sympathetischen Nervenzustand, in dem ihr autonomes Nervensystem ständig Gefahr meldet. Als sie von einer netten Verkäuferin begrüsst wird, ertönt ein Alarmsignal. Lisa kennt diese Frau nicht, sie ist für sie keine sichere Person und ihr bereits übererregte System kann auf diese Freundlichkeit nicht mit Verbundenheit in einem ventral-vagalen Zustand reagieren, denn das würde bedeuten, dass keine Gefahr besteht. Lisa nimmt aber unbewusst aus ihrem Inneren dieses Warnsignal auf, kann es nicht einordnen, so dass das Ganze sehr schnell zu einer Panikattacke führen kann. Lisa fühlt sich dann wie eine Ausserirdische und nicht normal. Scham und Hilflosigkeit überwältigen ihr ganzes Wesen, Flucht wäre die einzige Lösung. Und sich NIE wieder in so eine Situation bringen. Das kostet sie extrem viel Energie, von der ihr Körper ohnehin nicht viel übrig hat.
Dauerhafte Lösung wäre, wenn Lisa ihre inneren Zustände kennen würde, in die Polyvagal-Theorie sogenannte Mapping des Nervensystems.
Sie kann sich dann in sich selbst orientieren, wo sie sich auf ihrer inneren emotionalen Landkarte befindet. Sie weiss, wie und was ihr helfen kann, aus dem Zustand von Flucht/Kampf oder Erstarrung in die Verbundenheit zu kommen. Es ist ein Lernprozess mit wenig Theorie, ein paar Übungen im Alltag, die ihr Leben völlig verändern können. Sie lernt, sie übt mit einer sicheren, vertrauten Person und wendet das in ihrem Alltag an.
Sie kann sich mit ihren Freundinnen treffen und ins Kino gehen, mit ihren Arbeitskollegen ins Restaurant gehen oder alleine Zug und Bus fahren. Sie ist frei. Aus eigener Kraft.
Das ist die Kraft der Polyvagalen Theorie. Für jeden erlernbar.
Das Verständnis der Polyvagal-Theorie kann ein Schlüssel zur Heilung von Trauma sein. Hier sind einige Wege, wie sie transformative Veränderungen ermöglicht:
- Selbstmitgefühl entwickeln
Indem wir erkennen, dass unsere Reaktionen auf Trauma tief in unserem Nervensystem verwurzelt sind, können wir mitfühlender mit uns selbst umgehen. Wir verstehen, dass Symptome wie Angst, Überregung oder Taubheit nicht unser „Fehler“ sind, sondern natürliche Reaktionen unseres Körpers.
- Sicherheit kultivieren
Die Theorie betont die Bedeutung von Sicherheit für unser Wohlbefinden. Wir können aktiv daran arbeiten, Umgebungen und Beziehungen zu schaffen, die uns ein Gefühl von Sicherheit vermitteln. Das kann bedeuten, Grenzen zu setzen, uns mit unterstützenden Menschen zu umgeben oder Räume zu schaffen, in denen wir uns entspannen können.
- Körperbewusstsein stärken
Durch Achtsamkeit und somatische Übunge lernen wir, die Signale unseres Körpers wahrzunehmen. Dieses Bewusstsein ermöglicht es uns, rechtzeitig zu erkennen, wenn wir in Stresszustände geraten, uns sicher durch unsere innere emotionale Landkarte zu dem ventral-vagale Zustand zu steuern.
- Soziale Verbundenheit fördern
Positive soziale Interaktionen beruhigen und helfen uns unser Nervensystem aus Zuständen von Kampf, Flucht oder Erstarrung herauszukommen. Das bewusste Pflegen von Beziehungen und Gemeinschaft kann ein wichtiger Schritt in der Heilung sein. Wir können uns nur durch Beziehung zu anderen erleben. Wir sind hoch sozialen Wessen. Einsamkeit bedeutet für unseren Nervensystem, gleich tot zu sein.
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Praktische Anwendungen der Theorie
Die Integration der Polyvagalen Theorie in therapeutische Ansätze hat zu effektiven Methoden geführt, die Menschen bei der Heilung von Traumata unterstützen:
- Mapping des Nervensystems: Erstellung einer inneren Landkarte, die der inneren, emotionalen Orientierung dient und im Alltag zum ventral-vagalen Zustand navigiert.
- Atemübungen: Tiefe, verlangsamte Atmung in Stresssituationen, stellt die ventrale Kontrolle wieder her und sorgt für Entspannung.
- Stimmarbeit: Singen, Summen oder das Hören beruhigender Musik kann das Nervensystem positiv beeinflussen.
- Bewegung: Sanfte Bewegungsformen wie Yoga oder Tai Chi helfen, Verspannungen zu lösen und das Körperbewusstsein zu fördern.
- Therapeutische Begleitung: Eine sichere therapeutische Beziehung bietet einen Raum, in dem korrigierende Erfahrungen und Heilung stattfinden können. Hier kann das Verständnis der Polyvagal-Theorie und ihre Anwendung als innere Landkarte helfen, individuelle Strategien zu entwickeln. Dies trägt dazu bei, mehr und mehr in die Selbstbestimmung zu kommen und sich nicht hilflos von den Emotionen wegspülen zu lassen.
Ein Weg zu mehr Resilienz
Die Arbeit mit der Polyvagalen Theorie ermöglicht nicht nur Heilung, sondern auch den Aufbau von Resilienz. Indem wir lernen, unser Nervensystem besser zu verstehen und zu regulieren, können wir in Stresssituationen gelassener reagieren und schneller zu einem ventral-vagalen Zustand des Wohlbefindens zurückkehren.
Es ist ein Lern- und Wachstumsprozess, der Zeit und Geduld erfordert. Aber jede kleine Veränderung bringt uns einem Leben in Verbundenheit, Freude und innerer Ruhe näher. Wir lernen, uns Sicherheit zu schaffen und unser Nervensystem von ständiger Alarmbereitschaft auf Verbundenheit und Entspannung umzustellen.
Abschliessende Gedanken
Die Reise der Traumaheilung ist für jeden von uns einzigartig. Die Polyvagal-Theorie bietet uns einen Kompass, der uns durch die komplexen Landschaften unseres Nervensystems führt. Sie zeigt uns, dass wir die Fähigkeit haben, uns selbst zu heilen, wenn wir uns selbst mit Mitgefühl und Verständnis begegnen.
Die Polyvagal-Theorie scheint auf den ersten Blick sehr theoretisch zu sein, aber es ist eine Theorie, die, wenn sie gelebt wird, zu wahrer Heilung führen kann. Es ist eine Theorie der Verbundenheit und sie ist am wunderbarsten, wenn sie in Verbundenheit gelernt und gelebt werden kann. Dann kann sie ihr volles Potential entfalten und gelebt werden. Es ist eine Theorie, die auch dein Leben verändern kann, so wie sie meins verändert hat.